Flatz

 

 

Interessanter Titel, nicht wahr? Wissen Sie, was er bedeutet? Nein? Nun, Sie brauchen sich nicht zu genieren, ich wußte es bis vor kurzem auch nicht.

 Um Ihnen, werter Leser, eine mentale Befriedigung zu verschaffen, sollte ich Ihre Neugierde geweckt haben, werde ich Sie mit folgender Geschichte – authentisch, versteht sich – aufklären.

  

„Stefan, Post für dich“, sagte meine Mutter an einem Tag Ende September und überreichte mir einen Briefumschlag. Da ich mich über schriftliche Zusendungen wahnsinnig freue, machte ich ihn natürlich sofort mit glänzenden Augen auf. Zum Vorschein kam ein lachsfarbener Zettel mit der Aufschrift:

 

„Wildbretwochen im Gasthaus R.; 2620 FLATZ“.

 

Mit offenem Mund und erstarrtem Blick entkam mir ein „Wie bitte?!“. Seltsamerweise hatte ich noch nie von so einem Gasthof beziehungsweise den Namen eines solchen Ortes gehört. „Flatz“, grinste ich verschmitzt, „darauf reimt sich einiges…“. Ich war also ratlos. Noch dazu, weil nicht einmal meine Eltern diesen Ort kannten (und sie kennen viele Orte) und der Brief an mich persönlich gerichtet war. Ein Irrtum der Post war ausgeschlossen, da die Anschrift bis aufs kleinste Detail stimmte. Also beschloß ich letztendlich, mich telefonisch bei diesem Wirtshaus zu erkundigen und die Betreffenden zur Rede zu stellen.

Ich wählte deshalb die Nummer, die am unteren Rand des Zettels angegeben war, wartete auf das Freizeichen und vernahm dann eine sich meldende Frauenstimme. Am Dialekt und der schroffen, standhaften, selbstbewußten Stimme erkannte ich, daß es sich nur um die Wirtin handeln konnte.

„Guten Tag“, sagte ich, „mein Name ist Kronowetter. Ich habe Ihr Schreiben bezüglich der Wildbretwochen bekommen, kann mich aber absolut nicht erinnern, jemals bei Ihnen gewesen zu sein. Könnten Sie mir bitte Ihren Standort verraten und woher Sie meine Adresse haben?“

„Jo, des waß i ned“, antwortete die Frau am anderen Ende der Leitung in einem niederösterreichischen Dialekt, „oba wo mir san, kann i Ihna sogn: Waunn S’ bei Wiener Neustadt von der Autobahn ab- und in Richtung Ternitz foan, miass’n S’ vor Ternitz o’zweig’n, und der zweite Ort links is’ dann Flatz.“

Meine Augenbrauen berührten fast den Hinterkopf. „Ah, dort! Verstehe. Und wie lange haben Sie noch Wild?“

„Na, bis Ende Oktober sicher no’.“

„Sehr gut. Es würde mich nämlich sehr interessieren, wie Sie auf mich gekommen sind.“

„Tja, des kann i Ihna leider ned sog’n, mei’ Schwiegatochta hat die Briefe ausg’fü’d, oba wie warad’s, wann Sie amoi bei uns essen?“, antwortete sie in einer geschäftstüchtigen Business-Stimme.

„Das werde ich vielleicht tun“, gab ich zurück, bedankte mich und sagte Auf Wiedersehen. Dann drehte ich mich um und rief, „Papa…!“

  

Drei Wochen später schließlich, am 19. Oktober 1996, schlug mein Vater schmunzelnd vor, nach einer Fahrstunde mit meiner Mutter am ÖAMTC-Übungsplatz in Teesdorf dem kleinen Ort Flatz einen kulinarischen Besuch abzustatten.

Niemand hatte auch nur das geringste dagegen, da jeder vor Neugierde brannte und hoffte, daß ich mich vielleicht vor Ort doch noch an einen früheren Besuch im Gasthof R. erinnern würde.

Wir fuhren also erst zu meiner Tante, um ihr noch ein paar ausständige Frachten vorbeizuliefern, und mit ungewöhnlicher, fast ergreifender Flexibilität entschloß sie sich auf Zureden meiner Mutter, an unserem Ausflug teilzunehmen.

Flink wie noch nie war sie umgezogen und kam schon nach fünf Minuten mit meiner Mutter zum Auto gewieselt.

Dann ging es los. Nach einer kleinen Autobahnfahrt, bei der wie immer jede Menge gequatscht wurde, erreichten wir den Übungsplatz und bekamen gleich darauf lange Gesichter. Der Platz war wieder einmal wegen einer Veranstaltung geschlossen. Doch wenn in unserer Familie ein gutes Essen in Aussicht ist, noch dazu unter so mysteriösen Umständen, kann ein solcher Vorfall niemanden erschüttern.

Frohen Mutes also schlugen wir den Weg, oder besser die Straße Richtung Flatz ein. Da an dieser Stelle der Autokarte, welche zu lesen meine Aufgabe war, ziemlich viele und kleine Straßen eingezeichnet waren, verfehlten wir schon einmal die Abzweigung vor Ternitz. Aber mein Vater war sich sicher, auch von Ternitz direkt nach Flatz zu gelangen.

Und wirklich: Schon nach kurzer Zeit erreichten wir über eine kleine Straße Mahrersdorf, einen Nachbarort von Flatz.

Dort gab es eine Abzweigung mit zwei Möglichkeiten: links oder rechts.

Selbstverständlich entschlossen wir uns einstimmig für die falsche. Bereits nach wenigen Metern nämlich begann eine Forststraße, auf der es keine Umkehrmöglichkeit gab. Und da wir in einiger Entfernung eine Kirchturmspitze erblickten und deshalb vermuteten, nicht ins Nichts zu fahren, brachen wir das Fahrverbot und verfolgten den Weg.

Schon nach einer Minute sagte mein Vater, er habe in den letzten zwanzig Jahren keine solche „Straße“ mehr gesehen, was wir restlichen drei gut nachvollziehen konnten: Sie war aus dem gröbsten Schotter, und die Schlaglöcher, hunderte davon, ragten etwa bis zu einem halben Meter in den Boden hinein. Links waren einige Wiesen, und rechts ragten am Ufer eines Baches einige Sträucher empor. Ich sage nur: arme Stoßdämpfer!

Doch nach zehn Minuten langsamen Fahrens gelangten wir schließlich nach Flatz. Nun galt es herauszufinden, wo sich dieser Gasthof befindet. Wir kurvten kreuz und quer durch den ganzen Ort, und sahen dabei keine Menschenseele. Die Straßen waren alle so schlecht, vielleicht ein bisschen besser als die Forststraße vorhin.

Und endlich: In einem Hof hörten wir Baggergeräusche, die natürlich auf einen dazugehörigen Arbeiter schließen ließen. Wir blieben stehen, mein Vater stieg aus, und Sekunden später verstummte auch schon das maschinelle Summen. Nach einem kurzen Stimmengewirr und dem erneuten Dröhnen des wieder angeworfenen Baggers kehrte er zurück, berichtete, was der Einheimische gesagt hatte, und wir kamen, nach ein paar Ecken und Biegungen, anhand jener Anleitung endlich zum Gasthof R.

Dort geparkt stiegen wir aus, wunderten uns über die Unscheinbarkeit der Gaststätte und betraten die Stube.

Und da passierte es auch schon: Die Erinnerungen schossen wie Blitze durch meinen Kopf! Nun wußte ich, wann ich hier war: nämlich vor etwa sieben Jahren, nachdem ich mit Bekannten auf einer Hütte nahe bei Ternitz übernachtet hatte. Am Rückweg hatten wir dort gegessen, und entweder jemand von meinen Bekannten oder ich selber hatte die Adresse von mir dort hinterlassen. Dies ist mir aber bis heute ein großes Rätsel.

Auf jeden Fall hat das dort zubereitete Wild besser geschmeckt als jedes andere, das ich bis dato gegessen hatte, und ich kann den Gasthof R. ohne Schleichwerbungsabsichten wirklich nur weiterempfehlen!

 

So, nun wissen Sie, was es mit Flatz auf sich hat und sind vielen anderen Personen in der Allgemeinbildung um einen kleinen Schritt voraus!